Ich will nicht vergeben, ich kann nicht vergeben, weil …
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte nun schon gelesen und in der Beratung gehört habe.
Die Diskussion des „Nichtvergebenkönnens“ und immer häufiger des „Nichtvergebenmüssens" weil man es ganz einfach nicht will oder es nicht heilsrelevant sei, findet immer häufiger auch auf verschiedenen Social-Media-Kanälen und ihren Kommentarspalten statt.
Jedoch auch ganz allgemein in der spirituellen Szene sowie in der modernen Psycho- und Traumatherapie-Welt, wo es nicht selten heißt: „Du musst nichts vergeben“, „Es gibt nichts zu vergeben, weil es keine Täter und Opfer gibt“, „Man muss nicht alles verzeihen“, „Vergebung ist toxisch“, „Vergebung ist ein Freifahrtschein für weitere Übergriffe“, „Es ist nicht alles verzeihbar“.
Warum scheint Vergebung so schwierig?
Ich gebe es zu, es gibt wirklich Situationen, in denen Verzeihen ganz besonders schwer fällt. Z. B. wenn ein Familienmitglied oder man selbst durch Fremdverschulden schwer geschädigt wurde. Wenn es durch Fremdverschuldung zu einem Todesfall gekommen ist oder wenn man schwere Gewalt und schweren Missbrauch erlebt hat. Dies sind alles Situationen, die es einem wirklich sehr schwer machen, Frieden damit zu schließen, ganz besonders, wenn man täglich mit den Folgen oder weiteren Übergriffen konfrontiert ist.
Eine Verletzung wird sehr individuell wahrgenommen. Während die einen sehr empfindlich sind und eine Verletzung eine wahre Tragödie für sie darstellt, packt der andere, mit dem etwas dickeren Fell, eine Sache leichter weg. Dann gibt es Menschen, die sich gar nicht bewusst darüber sind, dass sie mit ihrem Verhalten jemanden verletzt haben, oder sie haben es gar nicht so gemeint, sie waren lediglich etwas uneinfühlsam. Doch dies ändert letztlich nichts daran, dass das Gegenüber es als schmerzhaft empfunden hat. Und so entstehen zahlreiche Verletzungen auch oft aus einer komplett anders erlebten Realität heraus, ohne es überhaupt mit bösen Absichten getan zu haben. Kein Mensch kann in das Herz des anderen hineinblicken.
Ich habe das früher oft selber so erlebt. So habe ich gewisse Situationen als extrem schlimm empfunden. Habe ich es einer anderen Person erzählt, konnte diese nicht verstehen, wie ich mich darüber aufhalten kann und umgekehrt, haben mir ihre Probleme, erstmal, in mir, ein inneres Fragezeichen entstehen lassen.
Und warum ist das so? Wir alle tragen verschiedene Prägungen aus unserer Kindheit und Vergangenheit in uns. Was für den einen kein Thema ist, kann für den anderen eine Katastrophe darstellen. Jeder reagiert anders auf verschiedene Lebensreize.
Manchmal erkennt man erst retrospektiv, dass gewisse Situationen einem gar nicht mehr antriggern. Dies bezeugt, dass man inzwischen neue Lebenserfahrungen sammeln konnte und sich deshalb einen ganz neuen Umgang mit diesen Situationen angeeignet hat.
Vielleicht kennst du das aus deinem eigenen Erfahrungsschatz.
So hat jeder Mensch sein individuelles inneres Erleben und entwickelt im Laufe der Zeit, seine ganz eigene Strategie, um mit Verletzungen und dem Geschehenen umzugehen.
Doch warum ist das so?
Unsere Verletzungen sind oft lange Zeit äusserlich nicht sichtbar, sondern sie bleiben tief in unserer Seele verborgen und zeigen sich nur dann und wann, wenn wir durch den entsprechenden äußeren Reiz daran erinnert werden und reflexartig „überreagieren", wie bei einer Allergie. Unser Nervensystem katapultiert uns dann in Sekundenbruchteilen in unsere Vergangenheit und wir werden mit der unverarbeiteten Gefühlswelt von damals überschwemmt. Diese Gefühle können je nach Intensität wut-, schmerz- und angsteinflößend bis hin zu existenzbedrohend wirken. Die Psycho- und Traumatherapie spricht hier von „Retraumatisierung“.
Dies ist ein überlebenswichtiger Selbstschutzmechanismus, der wie ein körpereigenes Alarmsystem reagiert um uns vor weiterer Gefahr zu schützen. Und das ist auch zu einem gewissen Grad gut und muss so sein, das ist von Gott so gedacht, sonst wären wir nicht überlebensfähig. Doch können uns einige dieser Reflexe im Erwachsenenleben oft auch im Wege stehen und unser inneres Wachstum verhindern.
Durch Lebensberatung, Psycho- oder Traumatherapie können wir Nervensystem regulierende Übungen und einen neuen Umgang mit selbstsabotierenden Verhaltensmustern erlernen. Doch die Wurzel des Übels, der offene Konflikt ist damit nicht gelöst. Vergebung ist in vielen Therapieformen nicht das zentrale Ziel der Therapie. Doch viele unserer Konflikte und herausfordernde Situationen im Hier und Jetzt, sind nichts anderes als Stellvertreterkonflikte, unerlöster Usprungskonflikte. Zumeist ist es eine offene Vater- und Mutterwunde, die nicht geheilt ist und sich solange durch anderen Menschen oder Situationen reinszienieren, bis sie erlöst sind. Zahlreiche Probleme, auch auf mentaler-, körperlicher und zwischenmenschlicher Ebene, verschwinden oft erst dann, wenn eine alte Schuld bereinigt und Vergebung ausgesprochen wurde.
Es gibt kein Wachstum ohne unserem Schmerz ins Auge zu blicken!

Fällt dir Vergebung schwer? dann blicke auf ihn
Vergebung ist ein zentrales Thema im Christentum.
Jesus sprach noch kurz vor seinem Tod am Kreuz:
"Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun." Lk 23,34
Verzeihen, Vergebung, Versöhnung? Was ist der Unterschied?
Bringen wir die Begriffe Verzeihen, Vergeben und Versöhnung zunächst in die richtige Relation:
Mit Verzeihen ... ist der Akt gemeint, bei dem man seinem Gegenüber ein Fehlverhalten verzeiht und trotzdem in Verbindung bleibt. Verzeihen stellt im Lebensalltag das gewohnte Miteinander wieder her.
Vergebung ... ist ein tiefgreifender Heilungsprozess. Er beinhaltet eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, dessen Akzeptanz und des Mitgefühls uns selbst und dem Schuldner gegenüber. Vergebung fordert von uns die Bereitschaft zur ehrlichen Selbstreflexion. Die Übernahme von Eigenverantwortung zur heilsamen Verarbeitung von Gedanken, Emotionen. Den eigenen Unzulänglichkeiten unter Miteinbezug einer höheren Macht, die für einen, für beide Parteien angemessenen Ausgleich, sorgen wird
Versöhnung ... ist, wenn zwei Konfliktpartner sich einig werden, dass das Aufrechterhalten des Konflikts, immer tiefer in eine Sackgasse führt und sie sich nun wieder auf einer vernünftigen, für beide heilsamen Ebene begegnen können.
Was Vergebung für dich bedeuten kann
Vergebung bedeutet für dich
- dass du in erster Linie einen Gefangenen freilässt, nämlich dich selbst
- dass du dich trotzdem abgrenzen und, wenn es sein muss, dich für die Zeit, die es braucht, von einem Menschen oder einer Situation distanzieren darfst
- dass du trotzdem klare Grenzen setzen darfst, auch wenn das im Extremfall für dich vielleicht bedeutet, dass du eine schwere Tat zur Anzeige bringen musst z.B in Strafrechtsrelevanten Fällen, oder wenn keine andere Sprache verstanden wird. Wir sind immer noch Menschen und es gibt irdische Regeln des gegenseitigen Respekts, sowie Gesetze an die sich alle halten müssen
- dass du selbst gesteckte Grenzen selber auch einhältst
- dass du in Eigenverantwortung kommst und dich mit der Situation auseinandersetzt
- dass du unterdrückten Worten und Gefühlen heilsamen Ausdruck verleist
- dass du dir allfällige Eigenanteile am Konflikt eingestehst und sie aufarbeitest
- das du alles, was deine oder der Menschen Kräfte und Möglichkeiten übersteigt, sowie den Schuldigen und alles zwischen euch offenstehende, an eine höhere Macht, Gott oder wie immer du sie nennen magst, abgibst und ihr den gerechten Ausgleich für das Erlittene überlässt
Was Vergebung nicht für dich bedeutet
- zu vergessen (obwohl das im Verlauf des Prozesses teilweise sogar passieren kann)
- einfach alles unter den Teppich zu kehren und so weiterzumachen, als ob nie etwas gewesen wäre
- passiv zu bleiben und weitere Grenzüberschreitungen über dich ergehen lassen
Folgen von Unvergebenheit sind
- Wiederkehrende Probleme in Beziehungen, Familie und am Arbeitsplatz
- Psychische und physische Krankheiten
- Ein Leben im Hamsterrad, voller Probleme, Pechsträhnen und Mangel
- Zwischenmenschliche Verstrickungen über den Tod hinaus (hier bald mehr dazu)
Wer nicht verzeihen kann oder will, fährt sich eines Tages durch seine eigene Verbitterung selbst an die Wand.
Die hartnäckigsten Hindernisse die Vergebung verhindern
Die Angst vor weiteren Grenzüberschreitungen
Man verwechselt Vergebung mit einem Freibrief für neue Grenzüberschreitungen des Täters!
Der Hochmut des permanenten Anklagens und das konsequente Übersehen eigener
Unzulänglichkeiten
Starres Verharren in der eigenen Opferrolle und die daraus folgenden Projektionen, statt der ehrlichen Reflexion und des sich Eingestehens, allfälliger Eigenanteile an der Situation!
Mangelnde Reue
Schuldgefühle, die man nicht ablegen kann (Mangelnde Selbstvergebung)
Anderen wird leicht vergeben, man ist auch fähig andere um Vergebung zu bitten. Aber sich selbst ist man der größte Feind. Solche Menschen schleppen ihre
Schuldgefühle oft ein Leben lang mit sich, weil sie sich selbst nicht vergeben können.
Was sie
benötigen, ist die "Absolution" von oben. Die Gewissheit, dass ihnen auch Gott vergeben hat. Ohne spirituelle Anbindung an einen persönlichen Gott, bleibt dieses Unterfangen jedoch oft
erfolglos.
Um den Frieden in uns wieder herzustellen, benötigen wir die Gewissheit, dass uns auch Gott seine Barmherzigkeit entgegenbringt und uns seine Vergebung schenkt. Wir
können dies tun, indem wir Ihm unser Schuldbüchlein vortragen und Ihn um Vergebung bitten. Er wird dies auch gerne tun und uns zur rechten Zeit darüber Gewissheit in unserem Herzen
schenken.
Wir dürfen auch unsere Erwartungshaltungen an unsere Mitmenschen loslassen. Wenn eine Person ihr negatives Verhalten uns gegenüber nicht ändern will und wir bereits
unser Bestmögliches zur Konfliktbereinigung getan haben, dürfen wir die Situation ebenfalls vertrauensvoll an Gott abgeben.
Loslassen und Gott lassen. Denn dieser hat für die ganz hartnäckigen Fälle ausreichend (bittere) «Heilkräutlein» mit garantierter Wirkung, in seiner Apotheke stehen.
Vergebung ist also keine leere Floskel und garantiert auch kein Freibrief für weitere Übergriffe. Keine Aufforderung, immer alles hinzunehmen und
Unmenschliches ein Leben lang zu dulden. Vergebung ist ein heilsamer Prozess, ein Spiel des Lebens, das gelingen kann, wenn man ihm seinen Raum und seine Wege lässt. Vergebung bringt uns wieder
in Verbindung mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit Gott und somit zurück in unser Urvertrauen und unsere Freiheit in ihm.
Aber wir werden es nicht herausfinden, wenn wir es nicht versuchen!
©sabineamrhein.ch
Photoart carolina grabowska, mauro fossati lon pexels & unslpash free licence, thx4
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Wer schreibt hier?
Ich bin Sabine, ich helfe Menschen, sich selbst, ihre Mitmenschen sowie ihre Lebensumstände besser zu verstehen und positiv zu verändern. Ich befasse mich schon viele Jahre mit christlicher Mystik und den Heilungswegen, die uns Jesus Christus bereits vor 2000 Jahren empfohlen hat. Wende sie selbst an und vermittle sie Hilfesuchenden zur Selbsthilfe.

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